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Weisst du noch?


Weisst du noch, wie das mit mir und dem Schreiben begann?


Ich kann mich nicht mehr daran erinnern

du aber wohl schon


Als ich vielleicht ein paar Monate alt war

hielt ich meinen ersten Stift in der Hand

unbeschwerte Krakeleien

die auf verknittertem Papier gedeihen

Leinwand, Hefte, Zeichenpapier

bald war nichts mehr sicher vor mir

Malereien, erste Worte

sprossen rasch an vielen Orten


Aus unbeschwerten Krakeleien

wurden viel zu bald verzweifelte Buchstabenreihen

die Tinte Sprachrohr stummer Hilfeschreie

die sich in Tagebüchern aus meinem Kopf befreien


Irgendwann war alles anders

ich weiss nicht mehr wie,

und nicht genau, seit wann

wie es dazu kam


Ich weiss nur, dann

Waren da diese dunklen Tintenflecke

und bedeckten meine Lebensstrecke

Nebelgraue Depressionstäler

und pechschwarze Angstgewitter

der Grat unter den Füssen immer schmäler

bittersüss ist vermehrt nur noch bitter


Und alles, was meine Hände hier schreiben

sind all die Fragen, die irgendwann noch bleiben


Bin ich mehr als To-do-Listen und Tagebuchseiten

als meine emotionale Bandbreite,

als Gefühlswellen, die ich ängstlich reite

als säuberlich zerlegte Gedankenscheiten

als festgefahrene Angewohnheiten

und als meine eigenen Lösungspfade,

die mich so oft in die Irre leiten?


Bin ich mehr als getrocknete Tinte, schwarz auf weiss

von wo ich komm und wie ich heiss

Summe aller Tage, die ich erlebe

das Gewicht all der Lasten, die ich hebe


Mehr als alte, kalte Erinnerungsfetzen

die sich in Endlosschleife durch meine Gedanken hetzen?


Lieber Gott

ich habe gezweifelt und gesucht

hab verzweifelt nur versucht,

Buchstaben zu verdrehen

und Worte zu finden

die sich durch meine Gedankengänge

bis hin zu meiner Seele winden

die dort ein fassbares Stück Hoffnung finden


Worte waren immer meine Welt

und was die Welt zusammenhält

als meine Welt unter all dem Druck zerfällt

find ich keine Worte mehr

wiegt der Stift in meinen Händen zu schwer


Lieber Gott

Ich würde so gerne eine neue Welt malen

aber mein Weiss vermischt sich mit dem schwarzen Hintergrund

und es entsteht immer bloss grau


aschfarbene Russflocken verschmieren mein Bild der Welt

und ich finde keine Farbtube, die genug Weiss enthält

um all die klaffenden Schluchten und sternlosen Nächte zu überstreichen

um genug Licht zu malen, dass die Schatten für immer weichen


was ich fühle und erlebe, kann ich nicht mehr verstehen

kann innerlich die Hand nicht mehr vor Augen sehen


Diese Erde ist voller Not wie Sand am Meer

und je länger ich darüber nachdenke,

desto mehr rinnt mir alles, was ich tue, wie Sand durch die Hände


Und doch

Lieber Gott

Warst nicht du bei mir?


Durch Therapiezimmer und energieloses Wimmern

durch Spitalbetten und Gedenkstätten toter Ideen

durch Dispensationen und Endstationen meiner Emotionsarmeen

durch säuberlich verpackte Pillen und wo ich nur noch gebrochenen Willen sehe

durch Fehldiagnosen und Gefühlsnarkosen

durch literweise bitteren Kaffee, dessen Sinn es nur war, dass ich irgendwie diesen Tag übersteh


Ich will glauben, dass du bleibst

Und deshalb ist das Einzige, was mir noch bleibt

meine Worte für einmal beiseitezulegen

um zu schauen, ob sich Worte von dir in mir regen


Was mir noch bleibt, ist der Gedanke

dass ich vielleicht die Geschichte meines Lebens,

die ich hier so bruchstückhaft erzähle,

fälschlicherweise nicht am Anfang begann,

sondern erst dann, als ich an Bewusstsein gewann


Doch dort, wo ich alles nur noch enden sehe

ist es vielleicht wichtig, dass ich den ersten Anfang verstehe



Lieber Gott

weisst du noch, wie das mit mir und dem Schreiben begann?


Ich weiss nicht, ob du einen Stift gebraucht hast

oder ob einfach dein Atem reichte

und mit jedem Wort das Dunkel verbleichte

Ob die Erde war oder noch nicht

ob die Sonne schon erstrahlte vor Licht


Aber es begann mit deinem in Stein gemeisselten Ja zu mir

Und mit meinem Namen auf deiner Hand

bevor meiner Geburt, bevor ich dich fand

oder gefunden wurde von dir


aus Ruinen und Rauch formst du neues Leben

und wirst aus Staub neu leuchtende Farbe weben

ich merk wie meine Hoffnungen sich heben -

und Zweifel sich heftig wehren dagegen


Dort wo ich einseh, dass ich dich brauch

und meine Stärke einfach nicht reicht

ist wo die Last von meinen Schultern weicht

und ich in ein Meer aus Gnade tauch


Wo innerlich alles verloren erscheint

bete ich zu dir, dem Gott, der mit mir weint

dass mein Rufen deine Ohren erreicht

und meine Angst im Schatten deiner Flügel weicht


Weil angefangen hat das mit dem Schreiben

Jahrtausende vor meiner Geburt

mit deiner Skizze für mein Herz und meine Welt

die du bis in alle Ewigkeit in deinen Händen hältst





Joanna, August 23

geschrieben für die Badenfahrt 2023




47 Ansichten2 Kommentare

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2 Comments


heinech2
May 11, 2024

Sehr schön und tief. Ich war letztes Jahr auch an der badenfahrt. Hat dir jemand auf das Gedicht geschrieben? Gruss aus Ulm

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Joanna
Joanna
May 13, 2024
Replying to

Merci für die Rückmeldung! Ich bin leider nicht ganz sicher, ob ich deine Frage verstehe... Was meinst du genau? Lieber Gruss, Joanna :)

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